Auf der autonomen Insel Åland, mitten im Baltikum zwischen Schweden und dem finnischen Festland, knallen alle zwei Jahre die Champagnerkorken. Der Grund dafür ist ein einmaliger Fund am Meeresgrund.
Mit einer modrig-weiß belegten Flasche in der Hand taucht Christian Ekström aus 50 Meter Tiefe langsam wieder auf. Sein Herz pocht vor Aufregung. In den Tiefen lagern noch 167 weitere Flaschen mit unbekanntem Inhalt. Eigentlich wollte das åländisch-schwedische Taucherteam nur ein Schiffswrack betauchen: einen zweimastigen Schoner, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts südlich von Föglö in den äußeren Schären von Åland gesunken war. In dem nahezu unversehrten Segelschiff auch noch einen Schatz zu finden hätte sich niemand träumen lassen. Wenn Christian Ekström nicht seiner Liebe zum Tauchen nachgeht, widmet er sich seiner zweiten Leidenschaft, dem Bier. Schon seit Jahren leitet er erfolgreich und voller Hingabe den Pub der åländischen Mikrobrauerei Stallhagen in Godby, in der Bier noch nach alter Handwerkstradition gebraut wird. Auch an jenem verheißungsvollen Tag war der flachsblonde Ålander mit einem Tauchtrupp in der Ostsee unterwegs. In den dunklen Tiefen des Baltischen Meeres suchen sie regelmäßig nach gesunkenen Schiffen aus vergangenen Zeiten. Die Crew hatte Glück, denn das Sonar zeigte wie erwartet in 50 Meter Tiefe ein Segelschiff an. Es schien senkrecht auf seinem Kiel zu stehen, die beiden Masten ragten ungebrochen in die Höhe – ein seltener Fund, dachten die Taucher erwartungsvoll.
Die Sichtweite am Meeresgrund betrug maximal zwei Meter. »Nur mithilfe von starken Lampen konnten wir den Schiffsrumpf absuchen«, berichtet Ekström. Bis auf ein abgefallenes Heckbord erwies sich der aus Planken gebaute 21,5 Meter lange und 6,5 Meter breite Schiffskörper als nahezu unversehrt. Sogar ein gemauerter Ziegelherd mit Töpfen war deutlich erkennbar. Zudem fanden sie mehrere Oktanten, Tonkrüge und Porzellangeschirr, welches teilweise der seit 1726 aktiven schwedischen Porzellanmanufaktur Rörstrand zugeordnet werden konnte. »Kurz bevor wir wieder auftauchten, wollte ich einen letzten Blick auf die Pinne werfen«, schildert Ekström. »Und da habe ich sie entdeckt.« Mehrere intakte Glasflaschen, bedeckt mit einem modrigen, organischen Film, der sich im Laufe der Jahrzehnte gebildet hatte. Eine davon nahm er mit an die Oberfläche. Auch für die auf Åland geborene Önologin Ella Grüssner Cromwell-Morgan fing der Tag ganz normal an. Neben ihrer Tätigkeit als Sommelière und Dozentin für Önologie an der inseleigenen Hochschule für angewandte Wissenschaften betreibt sie mit ihrem Mann Martin Cromwell-Morgan ein kleines Hotel in Saltvik. »Ich war eigentlich mit unseren Gästen beschäftigt, und plötzlich saß ich mit Christian Ekström und einer uralten Flasche aus dem Meer in meinem Garten.« Wenn die Weinspezialistin an diesen Tag zurückdenkt, bekommt sie immer noch Gänsehaut. »Wir wussten anfangs nicht, womit wir es zu tun hatten, doch die typische Flaschenform und auch die Korken wiesen auf Champagner hin«, erklärt sie. Der Inhalt habe sehr süß, wie ein im Eichenfass gereifter Apfelwein geschmeckt – ein vollmundiges Bouquet von reifen Früchten mit einem Hauch Tabak. »Und obwohl er so unglaublich alt war, schmeckte er überraschend frisch.« Im Nachhinein ist sie froh, dass sie das flüssige Gold aus dem Meer als Erste probieren durfte. Mit einer Flasche Perrier Jouët aus dem Jahr 1825 zählt der rund 170 Jahre alte Åland-Champagner zu den ältesten trinkbaren und somit auch exklusivsten Champagnern der Welt.
»Gerade bei uns – mitten im Nirgendwo – einen weltrekordverdächtigen Champagner zu entdecken ist schon fast ironisch«, bemerkt die Weinexpertin lachend. Auf Åland leben weniger als 30.000 Einwohner, rund 11.500 allein in seiner Hauptstadt Mariehamn (übersetzt Marienhafen, zurückzuführen auf die deutsche Prinzessin Marie von Hessen-Darmstadt, die Gattin des russischen Kaisers Alexander II.), die damit eine der kleinsten Hauptstädte Europas ist. Doch so besonders wie der Champagner-Fund ist auch das baltische Eiland: ein kleines Stück Schweden in Finnland, wenn man so will.
Bis Anfang des 19. Jahrhunderts gehörte der aus über 6.757 Inseln bestehende Archipel zum Schwedischen Reich. Als Folge des schwedisch-russischen Krieges musste Schweden im Jahr 1809 Finnland und Åland an Russland abtreten. Dadurch fiel die Inselgruppe dem neu gegründeten Großfürstentum Finnland zu, das wiederum dem Zarenreich Russland unterworfen war. Erst mit Finnlands Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1917 wurde auch die Zugehörigkeit Ålands neu diskutiert. Am 24. Juni 1921 einigte man sich auf einen Kompromiss: Das schwedischsprachige Åland wurde zur Selbstverwaltungszone unter finnischer Herrschaft. Seitdem dürfen die Åländer ihre Angelegenheiten weitgehend selbst regeln, was im Laufe der Zeit zu eigener Fahne, eigener Nationalhymne, eigenem Nationalfeiertag, eigenem Autokennzeichen, eigenen Briefmarken und eigener Internetdomain geführt hat. Das Sahnehäubchen der ålandischen Eigenständigkeit ist, dass Finnisch kein Pflichtschulfach ist.
Dass ein 170 Jahre alter, im Meer versenkter Champagner in so hervorragendem Zustand sein kann, liege an den optimalen Lagerbedingungen unter Wasser: der geringe Salzgehalt des Baltischen Meeres, die horizontale Lage des Schiffswracks, Dunkelheit, eine konstante Temperatur von vier Grad Celsius und ähnliche Druckverhältnisse im Inneren und Äußeren der Flaschen. Der Druck in 50 Meter Tiefe entspricht mit fünf Bar in etwa dem Druck innerhalb der Champagnerflaschen. »Das Wichtigste ist allerdings die geringe und konstant bleibende Temperatur am Meeresgrund«, erklärt der renommierte Champagnerexperte Richard Juhlin aus Schweden. Dadurch reife der Champagner deutlich langsamer und entwickle viel prägnantere, vollere Noten – vorausgesetzt, es gelangt kein Salzwasser ins Innere der Flaschen. Obwohl die ursprünglichen Korken noch gut erhalten waren, sollten alle Flaschen nach der Bergung neu verkorkt werden. Bevor das geschehen konnte, hatte Richard Juhlin das Privileg und die wichtige Aufgabe, von jeder einzelnen Flasche zu kosten, um Geschmack und Qualität des antiken Trunks zu bestimmen. »Rund zwei Drittel waren ungenießbar, die restlichen Flaschen hingegen schmeckten fantastisch«, schwärmt er. Im Labor untersuchte Proben ergaben, dass der Zuckergehalt des antiken Champagners mit rund 140 Gramm pro Liter im Vergleich zum heutigen Durchschnittswert von circa 10 Gramm pro Liter um ein Vielfaches höher ist. Die Süße des Champagners ist typisch für die Weinherstellung des frühen 19. Jahrhunderts, da Perlwein damals hauptsächlich als Dessertwein genossen wurde.
Anhand der auf den Korken eingebrannten Wappen und Schriftzüge war die Herkunftsbestimmung der Champagner ein Kinderspiel: Der Unterwasser-Fund umfasste Flaschen aus den Häusern Veuve Clicquot Ponsardin, Juglar (bis 1829, danach Jacquesson) und Heidsieck – allesamt noch heute bekannte Edelmarken. 47 der 168 Flaschen stellten sich als Veuve-Clicquot-Erzeugnisse aus den Jahren zwischen 1839 und 1841 heraus. Fabienne Moreau, die hauseigene Historikerin von Veuve Clicquot, geht sogar davon aus, dass sie aus einer von Madame Barbe-Nicole Clicquot Ponsardin höchstpersönlich beauftragten Produktion stammen: »Die bisher ältesten Flaschen in unserem Besitz stammen aus dem Jahr 1905, also lange nach dem Tod von Madame Clicquot.« Angesicht dieser Tatsache ist auch der weltrekordverdächtige Preis von 30.000 Euro wenig überraschend. So viel hat ein Paar aus Singapur für eine Flasche Veuve Clicquot aus dem Untersee-Fund bei der ersten Champagnerauktion in Mariehamn im Jahr 2011 hingelegt. Eine Flasche Juglar wurde für 24.000 Euro verkauft. Nach Angaben der Behörden sollen die Erlöse für meeresarchäologische Untersuchungen und Umweltprojekte in der Ostsee eingesetzt werden.
Doch nicht nur der Zustand der Ostsee liegt den Ålandern am Herzen, auch die Qualität von Champagner steht seit 2014 auf dem Programm. Zusammen mit Veuve Clicquot und der Universität Reims in Frankreich hat Familie Holmberg, der die Konferenz- und Hotelinsel Silverskär bei Saltvik gehört, ein besonderes Forschungsprojekt ins Leben gerufen: Bereits seit drei Jahren lagern unweit der sogenannten Champagner-Insel mehrere Käfige mit neuem Champagner auf dem Ostseegrund. »Wir wollen uns den Einfallsreichtum und die Kraft der Natur zunutze machen und testen, inwiefern sich die Unterwasserlagerung auf den Reifungsprozess des Champagners auswirkt«, erklärt Johan Mörn, einer der Manager von Silverskär. Parallel reift im französischen Reims Champagner der gleichen Jahrgänge in den herkömmlichen Lagervorrichtungen an Land. Das Projekt ist auf 40 Jahre ausgelegt, wobei alle zwei Jahre Flaschen von beiden Standorten geöffnet, probiert und miteinander verglichen werden. Eine der glücklichen Testerinnen ist Ella Grüssner Cromwell-Morgan: »Ich freue mich schon auf die nächste Kostprobe und bin gespannt, ob man in ein paar Jahren Unterschiede zwischen dem unter Wasser und dem normal gelagerten Veuve Clicquot schmeckt.« Ob sich die Unterwasserlagerung durchsetzt, wird sich erst in den kommenden Jahrzehnten zeigen. »Für Champagner, die nicht erst nach dreißig oder vierzig Jahren ihre Blütezeit erreichen sollen, ist die bisherige Lagerung an Land perfekt«, beurteilt der Experte Richard Juhlin. Die Unterwasserlagerung sei nicht immer geeignet, da sie den Reifungsprozess verlangsame. Dennoch kann er sich vorstellen, dass sich der ein oder andere Privatier einen Unterwasserkeller einrichten lässt – zumindest diejenigen mit Zugang zum Meer.
//
Text: Anna Karolina Stock. Fotos: Fullwave. Dieser Artikel erschien in der GOOSE No. 27