An Bord eines historischen Segelschiffes in den USA werden Jugendliche auf neuen Kurs gebracht.
Tauwerk aufschießen, ein Schiff steuern, Segel setzen oder bergen – das steht normalerweise nicht in den Lehrplänen amerikanischer High School Kids. Genau dies aber lernen Jugendliche an Bord des historischen Schoners Roseway und dabei natürlich auch noch sehr viel mehr. Zum einen geht es um das Zusammenleben und Arbeiten an Bord, um Teamwork und Motivation; zum anderen aber auch um speziell entwickelte Lernprogramme zu ganz unterschiedlichen Themen. Diesen Sommer zum Beispiel segelten Schüler auf einem Törn nach Ellis Island, New York, um die Frage zu untersuchen: »Warum nehmen Menschen für Freiheit und neue Möglichkeiten große Risiken und Opfer auf sich?« Wenn sich die Unterkunft und das Klassenzimmer an Bord eines historischen Segelschiffes befinden, welches man auch noch selber bewegt, ist man einem Teil der Antwort schon ganz intuitiv ein Stück näher: schließlich nimmt auch die Besatzung eines Segelschiffes Risiken und Unbequemlichkeiten auf sich. Auf Ellis Island dann wurden einzelne Schicksale von verschiedenen Immigranten untersucht, die hier in die USA kamen. Auch wurden Geschichten gehört und gelesen von entflohenen Sklaven, die dann in New Bedford unterkamen. Und immer wieder erfuhren die Schüler am eigenen Tagesablauf an Bord, dass man an Herausforderungen nicht nur scheitern, sondern vor allem auch wachsen kann. Dies ist das zentrale Anliegen der »World Ocean School«, die das Schiff und die vielen Projekte an Bord betreibt. »Die größte Herausforderung ist es, gegen die Apathie und den inneren Rückzug der Schüler zu wirken«, heißt es in den Zielen der Organisation. »Wir motivieren Schüler mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, indem wir sie akademisch, physisch und emotional fordern in unseren praktischen Programmen an Bord.«
Das Problem scheint tatsächlich groß. In den USA, so die Organisation, würden jedes Jahr drei Millionen junge Menschen die Schule vorzeitig abbrechen und sich noch sehr viele mehr innerlich von der Gesellschaft zurückziehen. Doch an Bord der Roseway wird diese Indifferenz rasch durch Inspiration ersetzt, Apathie durch Freude und Langeweile durch Motivation. Vor allem aber: Selbstzweifel werden in Zuversicht verwandelt. »Ich habe tatsächlich dieses Schiff gesteuert!«, wunderte sich eine 18-Jährige noch auf der Pier, mit einem bewundernden und liebevollen Blick auf das 260 Tonnen schwere Segelschiff, auf dem sie vorübergehend zu Hause war. »Das habe ich irgendwie immer noch nicht richtig verarbeitet! « Aber so ist es. Die Schüler, die Angst vor Einsamkeit hatten, lebten in der freundschaftlichen Kameradschaft zwischen Schülern und Stammbesatzung richtig auf. Andere, die sich gar nicht vorstellen konnten, ohne den gewohnten Komfort ihrer Elternhäuser existieren zu können, wollten das Schiff nach zwei Wochen am liebsten gar nicht mehr verlassen, so wohl fühlten sie sich an Bord. Und diejenigen, die vor den Herausforderungen an Bord Angst gehabt hatten, waren besonders stolz, wenn sie nach einem »Ausflug« in die Masten oder auf den Bugspriet wieder an Deck standen. Tatsächlich hat die Zeit an Bord der Roseway – die Schüler sind, je nach Programm, einige Tage oder bis zu mehreren Wochen an Bord – schon das Leben einiger positiv beeinflusst, wie Eden Leonard, Executive Director der Non-Profit-Organisation, sagt: »Es gibt in dieser Hinsicht etliche Berichte von Eltern oder auch Lehrern. Oft sind es nur subtile Veränderungen, wenn Schüler beispielsweise sagen, dass sie bei Tests die Antworten wissen, weil sie das auf der Roseway gelernt haben. Andere Schülerinnen und Schüler haben sich aber auch in kommunalen Hilfsprojekten engagiert, viele kommen auch als freiwillige Helfer zu uns zurück. Einige haben nach ihrer Schule sogar nautische Berufslaufbahnen eingeschlagen. Besonders wichtig sind aber die Fälle, in denen die Erfahrung auf Roseway den jungen Menschen Hoffnung und Inspiration geliefert hat, um die Schule erfolgreich zu beenden. Untersuchungen haben ergeben, dass die Jugendlichen nach ihrer Zeit an Bord der Roseway über mehr Optimismus, Antrieb und Durchhaltevermögen verfügen.«
Gegründet wurde die »World Ocean School« 2002, doch zunächst musste das Schiff restauriert werden. Die Roseway ist einer der letzten noch segelnden Grand-Banks-Schoner, jener legendären schnellen Schoner, mit denen vor den Küsten Neufundlands gefischt wurde. Allerdings wurde Roseway schon als »fischende Yacht« entworfen und 1925 in Essex, Massachusetts, gebaut. Sie sollte nicht nur fischen, sondern auch in den Rennen zu den Fischgründen und auf anderen Regatten ihre Ehre verteidigen. Dennoch stellte sie auch beim Fischen einen Rekord auf, als sie im Jahr 1934 an einem einzigen Tag 74 Schwertfische aus dem Atlantik holte. Als Yacht wurde sie besonders hochwertig gebaut und gepflegt, was sicherlich dazu beträgt, dass sie heute noch segelt. Jeden Winter wurde sie an Land eingelagert, und sogar die Kohle, die zum Heizen an Bord war, wurde vorher gewaschen. Solch eine extravagante Behandlung gab es unter den reinen Fischereischonern natürlich nicht. 1941, kurz vor dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour, wurde das Schiff an die Lotsenbrüderschaft von Boston verkauft. Die Lotsen, so ist es überliefert, waren von dem Schiff, ihrer Bauweise und ihren Segeleigenschaften begeistert. Während des Krieges wurden alle Leuchtfeuer entlang der Küsten gelöscht, und die Lotsen an Bord der Roseway mussten die Schiffe ganz ohne diese Landmarken durch die Minenfelder und U-Boot-Netze bis nach Boston hineinführen. Nach Kriegsende würdigte die Coast Guard die Lotsen der Roseway mit einer Messingplakette für ihre außergewöhnlichen Leistungen. Insgesamt blieb sie 32 Jahre im Dienst der Lotsen, bis sie 1973 ausgemustert und durch kleinere Motorboote ersetzt wurde. In jenem Jahr wurde sie auch zum Traditionssegler für Passagiere umgebaut. Zunächst durch eine Gruppe von Geschäftsleuten aus Boston, doch diese verkauften sie schon ein Jahr später an zwei unternehmungslustige Kapitäne. Ab 1975 segelten Jim Sharp und Orvil Young Chartertouren mit dem Schiff, in dieser Zeit wurde Roseway sogar zum Filmstar (in der Verfilmung von Rudyard Kipling’s »Captain Courageous«). Danach ging es jedoch bergab, die beiden Kapitäne verkauften und das Schiff lief noch einige Jahre in der Tourismusbranche in Camden, bis sie in den 1990er-Jahren von der Bank beschlagnahmt wurde.
2002 stiftete die Bank das nun ziemlich verlotterte Schiff an die »World Ocean School«. Zwei Jahre lang wurde restauriert und renoviert, dann konnte das frisch entstandene Schulschiff ihren Jungferntörn zu den Great Lakes unternehmen, um einerseits gründlich getestet zu werden und um andererseits aber auch schon Werbung für das Programm der »World Ocean School« zu machen. Im Mai 2006 verlegten sich Schiff und Schule nach Boston, wo die Programme entwickelt wurden, während Roseway schon für Tagestouren und Chartertörns eingesetzt wurde. Finanziert werden Schiff und Schule durch Partnerschulen, die an Bord ganz auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Programme mit Schülerinnen und Schülern durchführen, sowie durch Spenden von Einzelpersonen und Firmen sowie Tagescharter-Fahrten. Seit Gründung der »World Ocean School« nahmen über 20.000 junge Menschen daran teil, derzeit sind es rund 1.000 pro Jahr. Viele kommen aus Boston oder auch von der Karibikinsel St. Croix, den beiden »Heimathäfen« der Roseway, aber auch von Schulen in anderen Gegenden. »74 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus Familien mit niedrigem Einkommen«, fügt Eden hinzu. »Entweder sind ganze Schulklassen im Rahmen speziell für sie entwickelter Projekte an Bord oder auch individuelle Jugendliche von 12 bis 16 Jahren aus der ganzen Welt im Rahmen des Summer Ambassador Program, auf dann jeweils zweiwöchigen Törns. Die Klassen können alle Altersstufen umfassen, von 9 bis 22 Jahren!« Die Begeisterung jedenfalls scheint altersübergreifend zu sein. Stellvertretend für viele schildert ein 20-jähriger Schüler seine Eindrücke nach einem Törn mit der Roseway. Sein liebster Job an Bord war es zu steuern. Doch am meisten schätzte er die kleinen Momente an Bord, die er so noch nie erlebt hatte. Einfach einmal in Ruhe die Sterne zu betrachten zum Beispiel: »Ich habe Satelliten, Sternschnuppen und die Milchstraße gesehen. Und die Farben des Himmels, von Purpur zu Rot. Ich lebe in der Stadt, wo ich kaum etwas vom Himmel zu sehen bekomme!« Außerdem fühlte er sich an Bord bestens aufgehoben, trotz der beengten Unterkünfte, wo aus Fremden Freunde werden. »Irgendetwas hat Segeln, das Menschen an Bord zusammenbringt. Man lernt, zusammen auszukommen, Vertrauen zu haben und viel zu arbeiten. Nach einer Weile wird das Schiff dein Zuhause, und du musst dich darum kümmern, denn sonst sinkt es!« Möchte er wieder einmal segeln? Am liebsten, meint er, würde er gleich an Bord bleiben. »Ich habe in den vergangenen drei Wochen so viel mehr gelernt als in den sechs Monaten davor«, berichtet er voller Begeisterung. Und fügt hinzu: »Das ist eine Erfahrung, die einen auch demütig werden lässt!«
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Text: Detlef Jens. Dieser Artikel erschien in der GOOSE No. 30