G O O S E - Y A C H T S ∙ I S L A N D S ∙ H O R I Z O N S ∙ N ° 4 5 ∙ S U M M E R 2 0 2 3

England um 1860. Der britische Kohlehändler Samuel Plimsoll hat mit der Seefahrt nichts am Hut. Seine Welt besteht aus Lehrjahren in einer Anwaltskanzlei und aus seinem Job als Buchhalter in einer Brauerei. Er profitiert vom Energiehunger der Industrialisierung und macht mit Kohlehandel ein Vermögen. Daneben beschäftigt er sich mit Erfindungen. Als Praktiker findet er für technische Probleme oft simple Lösungen, so ein Verfahren, um aus Ofenschlacke nochmals Brennstoff herzustellen. Seine spezielle Schütte zum staubfreien Abfüllen von Kohlesäcken erhält sogar ein Patent. Dann kommt der Tag, wo Plimsoll seine Mission zur Rettung von Schiffen und Leben antritt. 1864 macht er seine erste Seereise. Auf der Fahrt von London nach Redcar kommt sein Schiff in ein Unwetter. Plimsoll ist von dem Naturspektakel und der Arbeit der Seeleute beeindruckt, später jedoch entsetzt, als er erfährt, dass vier Schiffe auf der gleichen Route untergegangen sind. Er macht sich schlau und erfährt die harte Wahrheit. Skrupellose Reeder lassen hoch versicherte, aber schlecht gewartete Schiffe überladen auslaufen. Mit dem Wissen, dass ja die Versicherung gut bezahlt, wenn der Seelenverkäufer absäuft. Die Gesetzgebung spielt den Profiteuren in die Hände. Weigert sich die Crew, an Bord zu gehen, kann sie mit Polizeigewalt dazu gezwungen werden – oder sie wandert drei Monate hinter Gitter. Auch an der Mannschaft wird gespart, blutjunge Neulinge ersetzen erfahrene Salzbuckel, denen ihr Leben lieb ist. EIN ZEICHEN DER ZEIT Als Plimsoll 1867 in die Politik geht und als Abgeordneter der Liberalen ins Unterhaus einzieht, ereignet sich ein weiteres Trauerspiel. Der Frachter Utopia schlägt nach einer Grundberührung im Liverpooler Hafen leck. Der Hafeninspektor schaut sich den Schaden an und setzt einen Strich auf den Rumpf. Will heißen: bis zur Reparatur nur bis hierhin beladen. Doch Business ist Business, und die Eigner kennen kein Pardon. Nachdem die Fracht verstaut ist, liegt die Utopia unter der Markierung. Der verantwortungsbewusste Kapitän protestiert und wird prompt gefeuert. Ein zweiter Kapitän wird ganz einfach erpresst: entweder auslaufen oder nie mehr ein Kommando erhalten. Die Utopia sticht in See – und sinkt drei Tage später. Dummer Zufall? Göttliches Schicksal? Die Seenotretter von der Royal National Lifeboat Institution kennen die wahre Ursache und schimpfen über den Missstand. Sogar auf Reederseite wollen sich einige wenige von den schwarzen Schafen distanzieren. Eigner James Hall reicht gemeinsam mit 15 Häfen eine Petition ein. Es kann so nicht mehr weitergehen. Die Unterzeichner fordern regelmäßige Inspektionen und eine Freibordmarke, die für alle sichtbar zeigen soll, bis wo ein Schiff beladen werden kann. Plimsoll spricht mit William Christopher Leng, Chefredakteur des »Sheffield Daily Telegraph«, der ebenfalls für die Markierung plädiert. Für Pragmatiker Plimsoll steht fest: Wenn ein simples Zeichen Leben und Schiffe retten kann, warum ist es dann nicht schon längst Gesetz? 1870 präsentiert er im Parlament drei Gesetzergänzungen für die Handelsschifffahrt. Inspektionen, Freibordmarke und Begrenzung von Versicherungssummen, damit sich das skrupellose Abzocken durch die Reeder nicht mehr lohnt. Doch anstatt Applaus erntet Plimsoll Ablehnung. Die Lobby der Reederschaft lässt den Antrag verschieben, vertagen, versanden. Es gebe schließlich Fragen mit größeren Dimensionen als Gesetze über aufgepinselte Zeichen an Schiffsrümpfen. weiterlesen 87

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