G O O S E - Y A C H T S ∙ I S L A N D S ∙ H O R I Z O N S ∙ N ° 4 5 ∙ S U M M E R 2 0 2 3

Für die Aufnahmen dieser archaischen Landschaft tausche ich die menschliche Perspektive und schlüpfe in die Rolle des Vogels. In Island steige ich nicht wie sonst ins Flugzeug, hier lasse ich meine Drohne die Umgebung erkunden, folge mit dem Auge der Kamera dem Lauf kaum berührter Flusslandschaften. Doch was will ich, außer schönen Bildern, von einer einzigartigen Landschaft eigentlich sagen? Das, was ich zu sehen bekomme, ist mit Worten schwer zu beschreiben. Es sind Formen und Farben, eine Art künstlerische Aquarelllandschaft; die Erde, der schwarze Sand, immer wieder andere Farben und Formen. Das Element Wasser wird hier und jetzt in einem kleinen Ausschnitt anders als gewöhnlich gesehen und einmal neu komponiert. Was ich als Fotograf und Vogelkundiger besonders liebe, ist der der Blick aus der Vogelperspektive. Meist etwas geneigt nach vorn, das gibt Details der Landschaft preis, ohne deren enorme Weite und Erhabenheit vermissen zu lassen. Neu in Island ist für mich der senkrechte Blick nach unten. Das bildnerische Ergebnis ist auf den ersten Blick überraschend; rätselhaft und ohne Perspektive. Entfernung und Weite verschwinden aus der Abbildung beinahe vollkommen, die Welt schrumpft und wird endlos zugleich. Es entsteht ein zweidimensionales »Closeup«, das von einem anderen Planeten aus aufgenommen zu sein scheint. DRAUFSICHT Jeden Tag kommen scharenweise Besucher auf neu angelegten Parkplätzen zum Bestaunen der Naturwunder, sie kommen als rollende, digital gesteuerte Karawane, knipsen ihre Erinnerungsfotos, posieren noch für ein Selfie oder ein kurzes Video mit dem Handy, und schon es geht weiter. Die Touristen wurden hier von Einheimischen nie sonderlich geschätzt, doch nach dem Zusammenbruch des Finanzsystems 2008 braucht man sie und ihr Geld dringend. Staatlich geförderte Werbekampagnen lassen die Zahlen der Islandbesucher steil ansteigen. Trotz enormer Preise für das Betrachten der einzigartigen, fast nackten Vulkanlandschaft könnte Island in Zukunft zur Peepshow unter den nordischen Länder verkommen. Dies wäre dann vielleicht das Programm: einmal an den Selfvoss, nach Goðafoss zur Lagune, vielleicht mit Guides zum gefährlichen Gletscher, zum Geysir, und dann hierher. Touristenorte sind ein Grauen für jeden naturaffinen Landschaftsfotografen, der nicht das Staunen der Menschen im Fokus hat. Sehnsuchtsorte der Natur sind zugleich Magnete für alle Fotograf:innen. Unentwegt postet die mobile digitale Herde in Social Media diese erhabenen Motive, jeder Besucher wird an jedem Parkplatz automatisch erfasst und gezählt. Isländer und Skandinavier bauen mehr als im übrigen Europa auf modernste Technik und Statistik, mittels Apps und Überwachung soll sichergestellt sein, dass niemand verloren geht. TOURISTEN EIN BLAUER FLUSS AUS SCHMELZWASSER // A STREAM OF BLUE MELTWATER 33

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